15. Dezember 2021
«Ich bekomme viel positives Feedback und gebe es gern zurück»
Bernd Gerresheim ist Chefarzt Geburtshilfe am Bethesda Spital in Basel und zertifizierter Stillberater. Wie die Zusatzausbildung den Blick auf seine Arbeit verändert hat – und wie wichtig die interprofessionelle Zusammenarbeit in seinem Berufsalltag ist.
Originalinterview der Scheizerische Ärztezeitung
Bernd Gerresheim, Sie sind Chefarzt Geburtshilfe und Pränatalmedizin am Bethesda Spital in Basel – und Sie sind zertifizierter Stillberater. Weshalb haben Sie diese Zusatzausbildung absolviert?
Bevor ich vor etwa fünf Jahren nach Basel kam, war ich zwölf Jahre lang Chefarzt in einer Klinik in Deutschland. Viele Frauen dort hatten den Wunsch zu stillen. Doch ein recht grosser Prozentsatz von ihnen hat während des Spitalaufenthalts oder kurz danach abgestillt, weil es nicht funktioniert hat. Mir wurde es wichtig, daran etwas zu verändern.
Weshalb?
In Gesprächen mit betroffenen Müttern ist mir klar geworden, dass viele von ihnen mit dem negativen Gefühl kämpften, ihr Kind nicht selbst ernähren zu können. Und wir konnten ihnen nicht immer helfen, ihren Wunsch zu erfüllen. Ursprünglich dachte ich, nur an ein oder zwei Stellschrauben drehen zu müssen, damit das besser klappt.
Aber?
Ich musste feststellen, dass die dortigen Kinderschwestern kaum Bereitschaft hatten, etwas an ihrem Vorgehen zu ändern. Zudem hatten sie mir gegenüber einen Wissensvorsprung. Als Gynäkologe mit Weiterbildung in spezieller Geburtshilfe hatte ich vom Stillen ja kaum Ahnung.
Welche Gründe für die geringe Stillquote wurden Ihnen von den Kinderschwestern, die die Frauen und Kinder nach der Geburt betreuten, denn genannt?
Grundsätzlich waren immer die anderen schuld. Die Frauen, so hiess es, können zum Beispiel nicht mehr stillen, weil sie nur noch aufs Handy schauen. Aber ich dachte mir, daran allein kann es nicht liegen. Ich wusste, wenn ich etwas ändern will, muss ich selbst in diesem Themenfeld kompetenter werden.
Also begannen Sie eine Ausbildung zum Stillberater.
Ich habe mich an das Europäische Institut für Stillen und Laktation gewandt, wo es auch Kurse für Ärztinnen und Ärzte gab. Der erste von zwei Kursen war allerdings schon abgeschlossen. Deshalb durfte ich den zweiten Teil besuchen. Um auf meine Stunden zu kommen, sollte ich danach noch Kurse besuchen, die auch Hebammen und Pflegekräfte belegten. Diese interprofessionellen Kurse habe ich als besonders bereichernd empfunden, weil die Hebammen und Pflegekräfte das Thema aus ganz anderen Perspektiven betrachten als wir Ärztinnen und Ärzte.
Wie hat diese Ausbildung Ihr Berufsleben verändert?
Vorher war es für mich das Wichtigste, dass Mutter und Kind nach der Entbindung gesund nach Hause gehen. Das ist natürlich immer noch das Wichtigste. Aber vorher fand ich alles darüber hinaus nicht wahnsinnig spannend. Jetzt sehe ich, dass der Bindungsaufbau zwischen Mutter und Kind sehr wichtig ist. Natürlich sind die paar Tage, die die Frauen bei uns verbringen, nicht die einzige Chance, eine gute Bindung aufzubauen. Aber wir können hier Weichen stellen. Das ist extrem wichtig, denn sicher gebundene Menschen tun sich sehr viel einfacher im Leben als unsicher gebundene Menschen.
Konnten Sie nach der Zusatzausbildung die Verhältnisse an Ihrem Arbeitsort ändern?
Ich hatte versucht, meine neu erlernten Fähigkeiten an meinem ehemaligen Arbeitsplatz umzusetzen. Aber das erwies sich als schwierig. Schliesslich bin ich aufs Bethesda Spital aufmerksam geworden. Hier konnte ich umsetzen, was mich während der Ausbildung zum Stillberater begeistert hatte. Denn bereits vor meinem Stellenantritt wurde hier viel Wert auf das Thema Bindung zwischen Mutter und Kind gelegt.
Im Bethesda Spital arbeiten nun zertifizierte Stillberaterinnen, die bei Stillproblemen helfen und damit einen Beitrag leisten, die Bindung zwischen Mutter und Kind zu fördern. Gehört das zu den Aspekten, die Sie umsetzen wollten?
Mir ist wichtig zu sagen, dass wir die Professionalisierung der Stillberatung gemeinsam als Team auf den Weg gebracht haben. Seit rund zwei Jahren haben wir ausgebildete Stillberaterinnen, die wirklich nur für die Stillberatung zuständig sind. Sie betreiben auch eine Stillambulanz, bei der sich Frauen von zu Hause aus telefonisch Rat holen können.
Neben der Geburtsklinik des Bethesda Spitals steht das hebammengeleitete Haus der Geburt. Dort gebären Frauen – wenn es gut läuft – ihr Kind ohne die Anwesenheit eines Arztes oder einer Ärztin. Wie war es für Sie, sich auf diese Zusammenarbeit einzulassen?
Das war auch für mich eine neue Erfahrung und zu Anfang schwer vorstellbar. Aber ich habe mich drauf eingelassen, vielleicht auch aufgrund der Erfahrungen, die ich während der Ausbildung gesammelt habe.
Wie meinen Sie das?
Seit meiner Ausbildung zum Stillberater ist für mich klar, dass es in der Geburtshilfe nur eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe geben kann. Konkret heisst das: Die Hebammen im Haus der Geburt betreuen die Schwangeren fast ausschliesslich, nur punktuell kommen die Frauen zu mir. Dieser Austausch funktioniert sehr gut. Denn jede beteiligte Fachperson möchte aus ihrem Blickwinkel das Beste zum Gelingen der Schwangerschaft und zu einer möglichst natürlichen Geburt beitragen.
Wie wirkt sich dieser interprofessionelle Ansatz auf die Arbeitsatmosphäre aus?
Es ist ein unheimlich befriedigendes Arbeitsumfeld, wenn man sich gegenseitig unterstützt und schätzt. Ich bekomme viel positives Feedback und gebe das auch gerne wieder zurück. Unsere Hebammen sind sehr kompetent, kriegen zuverlässig mit, wenn etwas nicht gut läuft und melden sich dann auch bei mir. Die Zusammenarbeit mit dem Haus der Geburt wirkt sich übrigens auch auf unsere Arbeit im Spital aus. Als Projekt für die Zukunft können wir uns vorstellen, einen hebammengeleiteten Gebärsaal einzuführen. Wenn es nicht nötig wird, soll dort während der gesamten Geburt kein Arzt anwesend sein.
Erfordert die interprofessionelle Zusammenarbeit besonders viele personelle Ressourcen?
Man braucht natürlich genügend Hebammen, aber am Ende ist die interprofessionelle Zusammenarbeit Untersuchungen zufolge nicht teurer. In unserem Team sollten es nicht weniger Hebammen werden, aber wir haben noch genügend Ressourcen.
Warum ist solch ein interprofessioneller Aufwand für eine Geburtsklinik mehr als bloss «nice to have»?
Diese Zusammenarbeit auf Augenhöhe trägt essentiell dazu bei, dass wir gute Geburtshilfe machen. Unser Inhouse-Team hat mit rund 22 Prozent eine sehr niedrige Kaiserschnittrate. Das ist für mich auch ein Qualitätsindikator. Im Haus der Geburt ist die Kaiserschnittrate noch tiefer.
Wie sichtbar ist Ihr interprofessionelles Profil eigentlich während Ihrer Arbeit? Merken die Frauen, dass Sie ein Gynäkologe mit Zusatzausbildung in Stillberatung sind?
Wir Gynäkologen machen ja viele Ultraschalluntersuchungen, schicken den Frauen 3D-Bilder der ungeborenen Kinder aufs Handy und so weiter. Da würde man denken, dass das besonders gut ankommt. Aber ich merke, dass ich mit einem erfolgreichen Ratschlag bezüglich des Stillens eine wirklich enge Bindung zu den Frauen aufbauen kann. Ich habe oft erlebt, dass mir Mütter später noch geschrieben haben, wie sehr ich ihnen in einer schwierigen Situation rund ums Stillen geholfen habe. Diese Frauen kommen in der nächsten Schwangerschaft besonders gerne wieder zu uns